Botschaft betreffend das Wiener Übereinkommen über Verträge über den internationalen Warenkauf

Fortsetzung 10

[766] 212.1 Auslegung des Übereinkommens und Lückenfüllung

Artikel 7 stellt für die Auslegung des Übereinkommens zwei Grundsätze auf, der eine betrifft die Auslegung im allgemeinen (Abs. 1), der andere regelt die Lückenfüllung (Abs. 2).

Artikel 8 befasst sich mit der Auslegung von Willenserklärungen, Artikel 10 enthält besondere Auslegungsregeln für den Fall, dass eine Partei entweder mehrere Niederlassungen oder keine Niederlassung hat, und Artikel 13 umschreibt den Begriff der Schriftlichkeit.

Bei der Auslegung jeder Bestimmung des Übereinkommens sind nach Artikel 7 Absatz 1 dessen internationaler Charakter und die Notwendigkeit zu berücksichtigen, die einheitliche Anwendung des Übereinkommens sowie die Wahrung des guten Glaubens im internationalen Handel zu fördern.

Die Aufforderung an den Richter, der Internationalität des Übereinkommens Rechnung zu tragen, hat nur (aber immerhin) programmatischen Charakter; sie dient im Grunde der Begründung für die Notwendigkeit einer weltweit gültigen einheitlichen Anwendung. Letztere setzt voraus, dass der angerufene Richter rechtsvergleichend tätig wird und bereit ist, einer bestimmten Auslegung, die sich in einer dominierenden Anzahl von Staaten etabliert hat, gegenüber seiner eigenen Anschauung den Vorzug zu geben. Mit der Pflicht zur einheitlichen Auslegung hängt auch die Wahrung des Gutglaubensschutzes eng zusammen. Man kann sich zwar fragen, ob es einen international anerkannten, einheitlich ausgestatteten guten Glauben überhaupt gibt. Die Entwicklung einheitlicher, allgemein anerkannter Grundsätze des Gutglaubenssehutzes wird indessen nur möglich sein, wenn sich die Parteien im internationalen Handel weltweit auf einen Fundus generell anerkannter Verhaltensregeln verlassen dürfen. Die einheitliche Auslegung des Wiener Übereinkommens ist ein erster Schritt in dieser Richtung.

Stellt der angerufene Richter im Text des Übereinkommens oder bei der Auslegung einer seiner Bestimmungen eine Lücke fest, so verpflichtet ihn Artikel 7 Absatz 2 vorerst, die dem Übereinkommen zugrunde liegenden Prinzipien zu berücksichtigen, bevor er für die Lückenfüllung auf das durch die Kollisionsnormen seines Forums für anwendbar erklärte nationale Recht zurückgreift. Dadurch will die Lückenfüllungsregel eine all zu rasche Flucht ins "vertraute" nationale Recht mit möglichst hohen Hemmschwellen versehen. Wie weit sich allgemeingültige Grundsätze aus dem Übereinkommen selber ermitteln lassen, wird die Praxis zeigen müssen. Sicher ist, dass man dem Geist des Übereinkommens mit blosser Eingliederung in die nationale Kaufrechtsdogmatik nicht gerecht wird. Andererseits sei nochmals darauf hingewiesen, dass die Lückenfüllung nach Absatz 2 nur Platz greifen kann, wenn es sich um eine Frage handelt, die einen im Übereinkommen geregelten Gegenstand betrifft.

Artikel 8 befasst sich mit der Auslegung von Willenserklärungen. Als Regel gilt, dass Erklärungen und Verhaltensweisen einer Partei nach deren Willen auszulegen sind, sofern die andere Partei diesen Willen kannte oder hätte kennen sollen (Abs. 1). Fehlt es am Kennen oder Kennenmüssen, so gilt die Auslegung, die ein vernünftiger Mensch in gleicher Stellung und unter den gleichen Umständen vorgenommen hätte (Abs. 2); dabei sind alle erheblichen Umstände zu [767] berücksichtigen, so vor allem Parteiverhandlungen, Gepflogenheiten zwischen den Parteien und ihr späteres Verhalten, aber auch Handelsbräuche.

Dem Ergebnis nach dürfte Artikel 8 der in der Schweiz vorherrschenden Vertrauenstheorie entsprechen. Nach ihr gilt eine Erklärung oder ein sonstiges Verhalten einer Partei so, wie sie es gewollt hat, sofern die andere Partei diesen Willen kannte oder hätte kennen müssen. Trifft dies nicht zu, so gilt nach schweizerischer Rechtsprechung das Verhalten oder die Erklärung so, wie sie nach Treu und Glauben im Verkehr von der anderen Partei aufgefasst werden konnte (vgl. Guhl/Merz/Kummer, Das schweizerische Obligationenrecht, 7. Aufl., Zürich 1980, S. 9 1). Das Übereinkommen drückt sich etwas komplizierter aus: Verlangt wird, dass Parteierklärungen so ausgelegt werden, wie sie eine vernunftige Person - in gleicher Stellung wie die andere Partei - unter den gleichen Umständen aufgefasst hätte (Abs.2). Für die Ermittlung dieses Verständnishorizontes sind alle erheblichen Umstände, insbesondere die Verhandlungen zwischen den Parteien, ihre Gepflogenheiten, die Handelsbräuche und das spätere Verhalten der Parteien zu berücksichtigen (Art.8 Abs.3).

In der Schweiz hat sich die Vertrauenstheorie insofern modifiziert, als nicht so sehr das Vertrauen des Erklärungsempfängers in das Verhalten des Erklärenden geschützt werden soll, sondern eher das Vertrauen des Erklärenden darin, dass sein Verhalten oder seine Äusserung vom Empfänger auch richtig - d. h. so, wie der Erklärende es gemeint hat - verstanden worden ist (vgl. etwa Bucher E., Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner Teil, Zürich 1979, S. 105) Nach der Praxis des Bundesgerichts ist der Erklärungsempfänger verpflichtet, alle ihm aus den Umständen erkennbaren Tatsachen zu berücksichtigen, um einen möglichen Erklärungsfehler der anderen Partei erkennen und entsprechend dem tatsächlichen Willen korrigieren zu können (vgl. BGE 106 11 16).

Inwieweit durch diese Modifizierung des Vertrauensprinzips eine Übereinstimmung mit den Auslegungsgrundsätzen des Wiener Kaufrechts erreicht wird, kann nur die Praxis weisen.

Der Begriff der Niederlassung spielt im Wiener Übereinkommen insofern eine wesentliche Rolle, als die Anwendbarkeit des Übereinkommens - zumindest partiell - von der Niederlassung der Parteien in verschiedenen Staaten ausgeht (vgl. Art. 1 Abs. 1 Bst. a) Dennoch wird die Niederlassung nirgends umschrieben. Artikel 10 Absatz 1 enthält nur eine Regel für den Fall, dass eine Partei mehrere Niederlassungen hat. Diesfalls ist jene Niederlassung ausschlaggebend, die mit dem Vertrag oder seiner Erfüllung die engste Beziehung aufweist. Zu berücksichtigen sind dabei die bekannten Umstände vor und bei Vertragsabschluss. Hat eine Partei keine Niederlassung - was höchst selten eintreten dürfte - so tritt an deren Stelle der gewöhnliche Aufenthalt (Art. 10 Abs. 2).

Nach Artikel 13 schliesslich umfasst der Begriff der "Schriftlichkeit" auch Mitteilungen durch Telegramm oder Telex.

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